Primum non nocere

Primum Non Nocere

Primum non nocere (lat. vor allem nicht schaden) ist ein Grundsatz ärztlichen Handelns, der schon aus den hippokratischen Schriften stammt. Er bedeutet, dass als oberstes Gebot in der Behandlung des
Patienten stehen sollte, diesen nicht noch zusätzlich zu seiner Krankheit weiteren schädigenden Einflüssen auszusetzen.

Sicherlich kann man argumentieren, dass es aber manchmal geboten scheint, Therapien anzuwenden, die für den Patienten unangenehme Nebenwirkungen haben können (z.B. Chemotherapie zur Krebsbehandlung), aber auf jeden Fall sollte der Nutzen der Behandlung größer sein als der Schaden, der durch die Behandlung entsteht.

Und wie sieht es heute mit diesem Grundsatz aus?

In meiner Arbeit als Anästhesistin werde ich leider tagtäglich mit Patienten konfrontiert, die nicht nach diesem Grundsatz behandelt werden. Hier nur einige Beispiele:

Der Typ 2 Diabetiker, dem von seinem Arzt erzählt wird, er solle eine Diät einhalten, die zu einem großen Teil aus Kohlenhydraten besteht (z. B. dem so gesunden Vollkorngetreide und Kartoffeln). Nun ist der Diabetes aber ganz ohne Zweifel eine Kohlenhydratstoffwechselstörung, die mit einer kohlenhydratarmen Diät auch gut in den Griff zu bekommen ist bzw. sogar in Remission gebracht werden kann. Das heißt der Patient braucht dann weniger oder gar keine Medikamente mehr zu nehmen, um den Blutzuckerspiegel in einem normalen Bereich zu halten. Und tatsächlich war das auch die Therapie der Wahl bis die Pharmaindustrie Medikamente entwickelt hat, die den Blutzuckerspiegel senken. Im Hinblick auf die teilweise gravierenden Nebenwirkungen dieser Medikamente, sollten die gegebenen Ernährungsempfehlungen doch noch einmal sehr genau überdacht werden.

Der übergewichtige Patient, dem sowohl vom Arzt als auch von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung erzählt wird „Da bist du selbst Schuld. Iss weniger und beweg dich mehr!“ Wenn es so einfach wäre, hätten wir sicherlich keine übergewichtigen Patienten. Schließlich folgen wir dieser Richtlinie seit annähernd 40 Jahren, aber jedes Jahr werden die Menschen (weltweit) immer dicker. Könnte es etwa daran liegen, dass unsere Ernährungsempfehlungen einfach falsch sind, so wie es seit ihrer Einführung von vielen Wissenschaftlern gesehen wurde, die in ihren
Untersuchungen zu einem völlig anderen Ergebnis kamen, was die Ursache der Adipositas angeht. Ist es vielleicht so, dass nicht alle Kalorien gleich sind, und das wir sehr viel mehr darauf achten müssen, woher unsere Kalorien kommen? Ist unsere kohlenhydratreiche, fettarme Ernährung wirklich das Non Plus Ultra? Neuere Erkenntnisse (immerhin der letzten 120 Jahre) zeigen, dass erhöhter Kohlenhydratkonsum zu Fettleibigkeit führt. Na sowas! Warum wird also genau diese Ernährungsform von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und auch von den Ärzten postuliert? Nicht zuletzt natürlich auch von der Nahrungsmittelindustrie, die es auch nicht leid wird, immer wieder zu betonen, dass Kalorien aus Brokkoli und Kalorien aus Schokolade oder süßen Getränken im Körper genau gleich verstoffwechselt werden.

Der Patient mit Fettleber. Wenn er nicht trinkt, wird ihm sein Arzt gerne erklären, dass er nicht sagen kann, was die Ursache der Fettleber ist. Tatsächlich nicht? Wie wäre es  z. B. mit den Auswirkungen eines erhöhten Fructosekonsums (Fruchtzucker) auf die Leber. Der Abbauweg der Fructose in der Leber, der ähnlich dem Abbau von Alkohol vonstatten geht, gibt eine nur allzu hinreichende Erklärung dafür, warum es zur
Leberverfettung kommt. Und warum ist das für den Patienten wichtig? Weil er eine einfache Umstellung in seiner Ernährung vornehmen kann, um diesen Vorgang aufzuhalten. Und ich spreche hier nicht davon, kein Obst mehr zu essen, sondern vom Konsum solcher Süßungsmittel wie Agavendicksaft (70 – 95 % Fructose) oder auch High Fructose Corn Syrup (HFCS mit immerhin 55 % Fruchtzucker).

Und schlussendlich die Hashimoto Thyreoiditis, eine utoimmunerkrankung, die zur Zerstörung der Schilddrüse führt. Auch hier werden die Patienten nicht auf die Ursachen dieser Erkrankung aufmerksam gemacht, die in einer erhöhten Durchlässigkeit der Darmschleimhaut liegt, die häufig durch Gluten (aus Getreide vor allem Weizen) verursacht wird. Muss der Patient das wissen? Ich denke schon. Immerhin hat er mit Auftreten einer Autoimmunerkrankung ein vierfach höheres Risiko eine zweite Autoimmunerkrankung zu bekommen. Das finde ich nicht ganz
unwesentlich, wenn es sich dabei um solche Krankheiten wie eine Multiple Sklerose handelt. Auch bei diesen Patienten ist eine Ernährungsumstellung Teil einer auf die Ursachen gerichteten
Therapie. Und auch bei diesen Patienten ist durch diese Therapie eine Remission der Schilddrüsenerkrankung zu erreichen, d. h. die Schilddrüse bleibt funktionstüchtig.

Brauchen wir eine neue Herangehensweise?

Dies sind nur einige Beispiele, die mir wie gesagt tagtäglich im OP begegnen. Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir als Mediziner umdenken, den Pharmareferenten von unserem Schoß schubsen und uns mit der Frage auseinandersetzen, warum es zu diesen Erkrankungen kommt, anstatt nach Diagnosestellung einfach reflexmäßig den Rezeptblock herauszuholen und ein paar Tabletten zu verschreiben.

Die Amerikaner machen es uns vor mit ihrer Disziplin der Functional oder Integrative Medicine, einem ganzheitlichen Ansatz zum Verständnis von Krankheiten. Sie erzielen damit zum Teil unglaubliche Erfolge, und das können wir auch.

Natürlich bedeutet diese Art der Medizin auch ein Umdenken auf Seiten der Patienten. Es ist eine Medizin, die vom Patienten Eigeninitiative verlangt, er muss an seiner Therapie aktiv mitarbeiten. Das ist schwieriger als einfach eine Pille zu schlucken (oder auch sechs oder acht oder zehn), aber das Outcome und die hierdurch zu erreichende Lebensqualität ist weitaus besser als mit den herkömmlichen Therapien. Und schließlich
wollen wir nicht nur Jahre zu unserem Leben hinzufügen, sondern auch Leben zu unseren Jahren.