Ich muss zugeben, dass die medizinische Informatik während des Studiums nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern gehört hat. Und so ging die Statistik über weite Strecken an mir – wie auch an meinen Kommilitonen – vorbei. Das ist – wie sich jetzt herausstellt – ein echtes Problem, denn es führt dazu, dass in Statistik Bewanderte, uns ziemlich einfach über den Tisch ziehen können.
Wahrscheinlich wäre es geschickter gewesen, den Lehrstoff anhand von Beispielen zu veranschaulichen. Ich denke, der Professor hätte sich unserer Aufmerksamkeit sicher sein können, wenn er uns folgende drei Täuschungsmanöver zur Verdeutlichung der Anwendung von Statistik vor Augen geführt hätte.
Die 5-Jahres Überlebensrate
Diese Rate wird immer dann ins Spiel gebracht, wenn es um die Therapie von Krebserkrankungen geht. Mit ihr soll bewiesen werden, dass durchgeführte Vorsorgeuntersuchungen und Therapien (OP, Chemotherapie, Bestrahlung) inzwischen häufiger zum Langzeitüberleben (> 5 Jahre) führen (1).
Ich fand diese Statistik bisher eigentlich auch sehr ermutigend, bis ich in einer Statistikvorlesung erfahren musste, dass diese Überlebensrate zwei systematische Fehler enthält, die zu diesem positiv verzerrten Bild beitragen. Und die sehen wir uns jetzt einmal an.
Fehler #1: Lead Time Bias – Vorlaufzeitverfälschung
Herr Müller und Herr Schmidt haben beide Prostatakrebs.
Bei Herrn Müller wird die Erkrankung noch vor dem Auftreten von Symptomen aufgrund einer Vorsorgeuntersuchung im Alter von 60 Jahren entdeckt und entsprechend behandelt. Mit 65 Jahren gehört Herr Müller zur Gruppe der Patienten, die ihre Krebserkrankung 5 Jahre überlebt haben. Dann verstirbt er mit 70 Jahren an den Folgen der Erkrankung (dies wird jedoch mit dieser Statistik logischerweise nicht erfasst).
Herr Schmidt hält nichts von Vorsorgeuntersuchungen, deshalb wird bei ihm die Erkrankung erst im Alter von 67 Jahren entdeckt, weil er entsprechende Symptome hat. Auch er verstirbt im Alter von 70 Jahren an den Folgen der Erkrankung. Dummerweise sind aber erst drei Jahre seit der Diagnose vergangen. Diese Tatsache wird als Beweis dafür angeführt, dass Screeninguntersuchungen das Überleben nach einer Krebserkrankung verlängern.
Wirklich interessant wäre in diesem Zusammenhang aber die Mortalitätsstatistik – also die Anzahl der Todesfälle durch Krebserkrankungen. Und die ist tatsächlich ziemlich ernüchternd. Ja, wir haben einen leichten Rückgang in der Sterblichkeitsrate an Krebs, aber die spiegelt in keiner Weise die angeblich so viel besseren Überlebensraten wieder (2).
Fehler #2: Überdiagnose
Untersucht werden zwei Gruppen:
Gruppe A besteht aus 1000 Personen mit diagnostiziertem fortgeschrittenen Prostatakrebs, die nie zu einer Vorsorgeuntersuchung gegangen sind. Nach 5 Jahren sind 440 Personen verstorben. Die Überlebensrate beträgt 440 : 1000 = 44 Prozent.
Gruppe B besteht aus 3000 Personen, bei denen der Prostatakrebs durch eine Vorsorgeuntersuchung erkannt worden ist. Diese Gruppe besteht aber tatsächlich aus zwei Untergruppen, und zwar 1000 Personen mit einem fortschreitenden Tumor und 2000 Personen mit einer Krebserkrankung, die – wenn man ihr ihren Lauf lassen würde – nie zu Problemen führen würde, da es sich um einen nicht fortschreitenden Tumor handelt. Mit anderen Worten, diese Personen wären auch ohne Behandlung nie an einer Krebserkrankung gestorben.
Die Überlebensrate für diese Gruppe sieht jetzt folgendermaßen aus:
2000 Personen mit einem nicht fortschreitenden Tumor überleben. Von den anderen 1000 Personen versterben 440. Es ergibt sich also 2440 : 3000 = 81 Prozent.
Sie sehen also, dass die höhere 5-Jahres Überlebensrate nur insofern mit der Vorsorgeuntersuchung zu tun hat, als Krebserkrankungen erkannt werden, die eigentlich keine Probleme machen würden. Das bedeutet aber eben nicht, dass im Endeffekt auch wirklich mehr Patienten überleben.
Sage ich, Sie sollten Vorsorgeuntersuchungen meiden? Nein! Sie sollten sich aber klar darüber sein, dass die 81 Prozent Überlebensrate durch die Angst und das Leiden von 2000 Personen erkauft wurden, die behandelt worden sind, obwohl sie überhaupt keine fortschreitende Krebserkrankung hatten. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Faktenboxen zur Krebsvorsorgeuntersuchung, die vom Harding Center herausgegeben wurden. Hier als Beispiel diejenigen für die Mammographie und die PSA Bestimmung zum Screening von Prostatakrebs (3, 4). So mancher Arzt war nach der Aufklärung über diese Zusammenhänge vom Nutzen der Vorsorgeuntersuchung nicht mehr wirklich überzeugt.
Bedingte Wahrscheinlichkeit
Das ist jetzt mal ein Konstrukt, mit dem man wirklich Leute verwirren kann.
Um die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ergeignisses zu berechnen, gibt es zwei Möglichkeiten:
- Natürliche Häufigkeiten
- Bedingte Wahrscheinlichkeiten.
Dafür brauche ich jetzt glatt, das Schaubild von Prof. Gigerenzer (Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin), um diese Zusammenhänge zu erklären.
Also:
8 von 1000 Frauen erkranken an Brustkrebs. Das entspricht einer Prävalenz (Auftretenswahrscheinlichkeit) von p = 0,08, Bei einem Screening kommt es bei 7 Patientinnen zu einem positiven Befund, während eine Patientin falsch negativ getestet wird. Die Sensitivität des Screenings beträgt damit p = 0,9. Gleichzeitig erhalten 70 Patientinnen ein positives Ergebnis, obwohl sie keinen Krebs haben. Dies entspricht einer Spezifität (die Krankheit ist tatsächlich da, wenn das Ergebnis positiv ist) von p =0,07.
Prof. Gigerenzer hat Frauenärzte befragt, wie hoch das Risiko für eine Frau mit einem positiven Mammographie-Screening ist, tatsächlich Brustkrebs zu haben. Mehr als die Hälfte dieser Ärzte waren der Meinung, dass sich das Risiko bei dieser Frau im Bereich von 80 – 90 Prozent bewegt (5). Tatsächlich beträgt ihr Risiko allerdings nur 10 Prozent, was die Berechnung der natürlichen Häufigkeit leicht erkennen lässt.
Sie können sich sicherlich lebhaft vorstellen wie die Mitteilung, sie habe ein 90 prozentiges Risiko tatsächlich an Brustkrebs erkrankt zu sein, auf eine Frau nach einer positiven Mammographie wirkt. Die meisten Menschen assoziieren Krebs mit einem Todesurteil – und dabei hat es sich tatsächlich nur um falsch verstandene Statistik gehandelt?!!
Ich darf Ihnen versichern, dass die meisten Ärzte ein Problem mit der Anwendung von bedingten Wahrscheinlichkeiten auf Alltagsfragen haben – und wenn man sich das Schaubild ansieht, dann ist das auch nicht verwunderlich. Für eine Patientenaufklärung, die sowohl der Arzt als auch der Patient verstehen, wäre also die Verwendung von natürlichen Häufigkeiten deutlich angemessener.
Relatives Risiko vs. absolutes Risiko
Das ist eine Taktik, die Pharmaunternehmen aus dem FF beherrschen, und die an den meisten Leuten einfach so vorbei geht.
Nehmen wir mal Statine (Cholesterinsenker), weil ganz viele Ärzte der Meinung sind, dass diese Medikamente Leben retten.
Lipitor wird damit beworben, dass es das Risiko eines Schlaganfalls bei einer Hochrisikogruppe von Typ II Diabetikern über einen Zeitraum von 4 Jahren um 48 Prozent reduziert (6). Ganz klar, wenn das der freundliche Pharmareferent dem Arzt mitteilt, dann möchte der dieses Wundermittel gerne seinen Patienten verschreiben. Ich meine eine Reduktion um 48 Prozent, das ist fast die Hälfte der Betroffenen!
Oder etwa doch nicht?
Oh, es ist nur das relative Risiko, das um 48 Prozent gesenkt wird. Dann sehen wir uns doch mal an wie sich das in absoluten Zahlen darstellt:
In absoluten Zahlen wird das Risiko für einen Schlaganfall von 28 Fällen pro 1000 Personen auf 15 Fälle pro 1000 Personen gesenkt. Und damit ist der Unterschied dann nur noch 13 Personen und das absoluten Risiko sinkt also um 1,3 Prozent. Das finde ich nun wirklich enttäuschen – vor allem wenn man einbezieht, dass Statine gravierende Nebenwirkungen haben.
Und was auch noch nicht berücksichtigt wurde ist die NNR = Number Needed to Treat – das heißt wie viele Patienten diese Medikamente einnehmen müssen, um einen Schlaganfall zu verhindern. Im Fall von Lipitor sind das 77 Personen über einen Zeitraum von 4 Jahren.
48 Prozent gegen 1,3 Prozent – ich würde sagen, da sind dann alle Tricks ausgereizt worden. Ich möchte auch behaupten, dass die meisten Kollegen kein Gefühl dafür haben wie weit relatives Risiko und absolutes Risiko auseinanderklaffen. Nur so ist es zu erklären, dass Ärzte ihren Patienten erzählen: „Wenn Sie das Statin absetzen, sterben Sie an einem Herzinfarkt.“ Tatsächlich zeigen Studien auf, dass das Absetzen eines Statins womöglich Überlebensvorteile mit sich bringt (7).
Also – wenn ein Medikament nur geringe Vorteile bringt, werden Pharmaunternehmen immer mit relativen Risiken arbeiten, denn das klingt dann einfach besser.
Auf der anderen Seite werden aber unerwünschte Nebenwirkungen heruntergespielt – und da benutzt man dann gerne wieder das absolute Risiko. Sie kennen das, auf dem Beipackzettel steht dann das 3 von 1000 Patienten Nebenwirkung XYZ hatten – also lächerliche 0,3 Prozent. Nicht weiter schlimm.
Es wird Sie jetzt vielleicht nicht wundern, dass die Studien in den medizinischen Zeitschriften genauso veröffentlicht werden: Minimale Risikominimierungen werden durch Angabe des relativen Risikos hochgepuscht während Nebenwirkungen durch Angabe des absoluten Risikos als bedeutungslos hingestellt werden. Das ist natürlich nicht korrekt, weil somit praktisch Äpfel mit Birnen verglichen werden. Bei einer Untersuchung von Studien, die im Lancet, British Medical Journal und JAMA (alles hoch angesehene medizinische Fachzeitschriften) in den Jahren 2004 – 2006 veröffentlicht wurden, benutzten ein Drittel der Studien diese nicht übereinstimmende Auswertung. Welcher Arzt glauben Sie, hat die Zeit, sich durch diesen Wirrwarr durchzuarbeiten?
Wie gesagt, es ist höchste Zeit, mit diesem Statistik Analphabetentum aufzuräumen, um die Manipulation von Ärzten und Patienten zu verhindern. Ein neues Unterrichtscurriculum sowohl an Schulen als auch an Universitäten könnte hier helfen.
Und ich kann nur jedem Interessierten empfehlen, sich diese Vorlesung von Professor Gigerenzer auf YouTube anzusehen.
(1) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/88934/Krebs-Ueberlebensraten-weltweit-gestiegen-bei-grossen-internationalen-Unterschieden
(2) https://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Datenbankabfrage/datenbankabfrage_stufe1_node.html
(3) https://www.weisse-liste.de/export/sites/weisseliste/de/.content/pdf/service/Faktenbox_Mammographie.pdf
(4) https://www.weisse-liste.de/export/sites/weisseliste/de/.content/pdf/service/Faktenbox_Prostatakrebs.pdf
(5) Helping Doctors and Patients Make Sense of Health Statistics https://www.psychologicalscience.org/journals/pspi/pspi_8_2_article.pdf
(6) 10 truths about statins and high cholesterol https://utswmed.org/medblog/statins-answers/
(7) Recent Flaws in Evidence-Based Medicine: Statin Effects in Primary Prevention and Consequences of Suspending the Treatment https://www.jcbmr.com/index.php/jcbmr/article/download/18/36
Ich habe Informatik studiert mit Nebenfach Medizin (Erlangen).
Die erste Vorlesung im Medizinbereich war medizinische Statistik und der Dozent begrüßte uns mit den Worten: „gut, daß Sie hier sitzen und etwas über medizinische Statistik lernen wollen. Die Ärzte können nämlich in der Regel ihre eigenen Statistiken nicht interpretieren. Die brauchen Ihre Hilfe, sonst kommt dann, daß der Storch die Kinder bringt….“
Und darauf kam dann als negativ Beispiel, daß man tatsächlich aus dem Datenmaterial „Landleben und viele Störche“ und „Landleben und viele Kinder“ bei Misachtung einfacher Regeln der Storch die Kinder bringt oder daß Kinder mit Brille intelligenter als Kinder ohne Brille sind usw.
Damals glaubte ich auch, daß es einfach Dummheit ist, aber global gesehen halte ich mittlerweile für Absicht, aus den Statistiken eben das heraus zu lesen, was man gerade braucht, unter Misachtung aller mathematischen Regeln.
Besonders bedenklich finde ich zum Thema impfen noch, dass jüngst Hetzjagd auf Eltern gemacht wurde, die sich gegen die Masernimpfung aussprachen. Sie wollten ihre Kinder nicht schädlich und künstlich infizieren, sie damit zu Trägern von Viren machen. Ich habe als Kind wohl alle diese Infektionen auf natürlichem Weg durchlebt, bin also gewappnet..
Was wir schon immer ahnten, aber jetzt von Dr. Bendig erklärt bekommen: Statistik ist wahrlich nicht alles! Im Gegenteil. Das war mir schon intuitiv bewusst, als einer meiner Schulfreunde in Leitender Funktion an einer niedersächsischen Uni so stolz auf seine Statistiken war, ich ihm aber beim Abitreffen frech den Unterschied zwischen Theorie und Praxis erläutern wollte.
In meinem Fall ziele ich auf den Faktor Brustkrebs hin: meine Mutter war daran erkrankt und durfte sich nach Abnahme der linken Brust anhören, dass sie weder Chemo brauchen würde, noch die Entfernung von Lymphknoten. Eine gute Nachricht an sich. Hintergrund: ich belauschte den Arzt bei der Aussage, dass „die Patientin bereits 78 ist und Brustkrebs gewöhnlich innerhalb von zehn Jahren zurück kommt, dann ist sie 88 und es ist fraglich, ob sie dann überhaupt noch lebt“. Tat sie. Sie starb mit 89 an den Folgen eines unerkannten Tumors im Bereich des Rückenmarks, die Schmerzen tat der Arzt als Folge von Osteoporose ab! Trotz eines strengen Monitorings und Vorsorge ist meine Mutter also doch an Krebs verstorben und hat die Statistik damit gefälscht.
Auswirkungen auf mich: Sorge, dass ich ebenfalls eines Tages an Brustkrebs erkranken könnte, genetisch bedingt. Als mir der Frauenarzt einen Gentest vorschlug (80er Jahre), lehnte ich den ab: was nützt es mir, wenn ich weiß, dass ich eines Tages Krebs bekomme, aber nicht weiß, wann? Ich würde mir nur unnötige Sorgen machen und vor Angst zittern. Auch eine regelmäßige Mammografie lehnte ich ab, mir genügte die Untersuchung im Jahrescheck und öfter eigenes Abtasten. Wie ich heute weiß, war das richtig, auch wenn es immer noch als albern gilt zu glauben, die Mammo belaste den Körper. Wie uns nun VIP Damen vorleben, wird vor allem in den USA zur Prävention von Brustkrebs fleißig amputiert (mir fällt gerade der exakte med. Begriff nicht ein, bin keine Medizinerin), das würde mir doch im Traum nicht einfallen und ich halte es für eine Folge der Panikmache. Mit fast 60 bin ich gelassen genug, um erst dann zu reagieren, wenn es wirklich an der Zeit wäre..
Frau Dr. Bendig, mit Ihrer Vorliebe für praktische Beispiele im Studium oder in der Fortbildung sind Sie nicht alleine: mir ging es an der Uni ähnlich. Beispiele oder Fallszenarien merkt man sich einfach leichter als bloße Zahlen, das nur am Rande. Anschauliches Beispiel sind auch Impfungen: Statistiken sollen uns glauben machen, dass z.B. Masern in USA und Australien durch Impfungen ausgerottet wurden. Impfungen sind also die Lösung für alles? Leider gibt es keine Gelder für Statistiken, die Impfschäden auflisten oder Fortbildungen dafür, wie diese am Patienten leichter erkannt werden könnten. So bekommen viel zu häufig PatientInnen eine Diagnose, die total verschleiert und schlicht oft falsch ist, weil ein Impfschaden nicht erkannt und damit nicht statistisch erfasst wurde. Na, bravo.
Herzliche Grüße
Karola Bady
Da haben Sie völlig recht. Auch bei Impfungen werden die Statistiken natürlich fleißig gefälscht, damit sie ein positives Bild aufzeigen. Wie wir im Studium schon immer gesagt haben: „Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast.“ Traurig, aber wahr.